Automobilindustrie: Schaffen wir den Wandel?

Der Wandel der Automobilindustrie vom fahrzeugfokussierten hin zu einem mobilitätsorientierten Geschäftsmodell: Warum ist er so notwendig und wie könnte man ihn angehen?

Die Automobilindustrie befindet sich im größten Wandel ihrer langen Geschichte und hat zeitgleich viele Herausforderungen zu meistern. Der Druck, Klimaneutralität bei Produktion, Service und bei der Fahrzeugnutzung zu erreichen, wächst mit immer engeren Vorgaben weiter.

Der Markt fordert Elektroantrieb, Connected Services und autonom fahrende Autos. Mit der kontinuierlichen Kopplung der Fahrzeuge beispielsweise mit Parkhäusern, Händlern und Versicherungen entstehen neue Geschäftsmodelle. Auch der Handel mit Daten bietet neues Geschäftspotential und ist zu etablieren. Die Neuwagenkäufer nähern sich langsam dem Alter der „Best Agers“ und die Jugend ordnet dem Besitz von Fahrzeugen immer geringere Bedeutung zu. Stattdessen sind Mobilitätsdienste als auch Sharing Modelle gefragt. Die Digital Natives dringen in den Arbeitsmarkt und bringen mit ihren Erfahrungen und ihrem Wertesystem neue Verhaltensmuster in die Unternehmens- und Kundenwelt.

Dr. Katja Unkel
Abb. 1 Entwicklung Umsatzstruktur der Automobilindustrie; Flächen in Relation zum Potenzial [Accenture, 2018]

Mit der Digitalisierung und dem Wandel der Industrie schreitet die Durchdringung von Fahrzeugen mit IT ungebremst mit exponentiellem Wachstum voran und die Anzahl von Control Units und auch der Umfang der Software in den Autos wachsen unaufhörlich. Um die wachsende IT-Heterogenität und Komplexität beherrschen zu können, sind neue Architekturen für die Car IT erforderlich. Wie in der Enterprise IT sind dabei Harmonisierung, Konsolidierung und Trennung von Hardware und Software Leitgedanken. Das Auto wird zum IoT Device und ist über “Connected Services” und besonders auch beim autonomen Fahren permanent online. Das Geschäftsmodell der Autoindustrie verändert sich von „diskret fahrzeugorientiert“ hin zu „kontinuierlich mobilitätsorientiert“. Fahrzeughersteller werden zu IT-Unternehmen.

Diese tiefgreifenden Veränderungen schnell umfassend zu adaptieren ist die Herausforderung für die Industrie, die in der Umsetzung von Changes und Transformationen eher langsam ist. Entwicklungszeiten neuer Fahrzeuge liegen beispielsweise im Bereich von 4 bis 6 Jahren und sind so in keiner Weise kompatibel zum Rhythmus beispielsweise der Smartphone- oder App-Entwicklung, zu denen in der Regel unterjährig Nachfolgeprodukte vorgestellt werden. Die Umsetzung dieser Veränderung ist jedoch alternativlos, wie auch eine Analyse der zu erwartenden Geschäftsentwicklungen untermauert. Viele Studien zeigen, dass zukünftig das fahrzeugbezogene Geschäft in den Hintergrund tritt und die Bedeutung von Mobilitätsservice und Digitalen Diensten das Wachstum und das Ergebnis der Automobilindustrie bestimmen. Beispielhaft zeigt Abb. 1 [Sch18] die Veränderung des Umsatzpotenzials hin zu neuen Geschäftsfeldern über einen längeren Zeitraum bis zum Jahr 2040.

Das heutige Geschäft ist durch Fahrzeugverkauf und Aftersales Services geprägt. Langfristig ist es absehbar, dass sich die Potenziale umdrehen und mehr Umsatz mit Mobilitätsdiensten und auch komplementären Services erzielt werden. Hierbei entwickeln sich komplett neue Geschäftsfelder, und die Rolle des Autos wird sich bis zum Jahr 2040 völlig verändern hin zu einem Bestandteil neuer Angebotsformen beispielsweise genutzt als rollender Hotelraum oder als Teil des Serviceangebotes im Handel. Das traditionelle Geschäft der Automobilindustrie wird zukünftig abnehmen und sich im Gegenzug ein deutliches Wachstum in den Bereichen Mobilitätsdienstleistungen, Connected Services und Drittgeschäft in Zusammenarbeit mit neuen Partnern und in neuen Geschäftsformen entwickeln. Somit ist es für die etablierten Automobilunternehmen überlebenswichtig, eine Neuausrichtung auch auf diese Umsatzpotenziale zu definieren und die erforderlichen Änderungen auf Basis einer umfassenden Digitalisierungsstrategie und -roadmap anzugehen.

Dr. Katja Unkel

Bei den bevorstehenden tiefgreifenden Veränderungen bestehen die Herausforderungen nicht so sehr in der Beherrschung und Verfügbarkeit der erforderlichen Digitalisierungstechnologien. Viel schwieriger wird es sein, alle Mitarbeiter zu motivieren, die Transformation und den Wandel aktiv mit zu gestalten und nicht skeptisch in alten Verhaltensmustern und Abläufen zu verharren oder den Wandel gar zu torpedieren. Die heutige Unternehmenskultur der Hersteller ist oft noch durch hierarchische Strukturen und traditionelle Wertesysteme geprägt. Um die damit verbundenen Verkrustungen aufzubrechen und eine Aufbruchsstimmung als Basis für die Veränderung zu erzeugen, ist eine neue „digitale Kultur“ erforderlich. Diese ist geprägt von Neugierde, Änderungsbereitschaft und flachen Hierarchien. Geschwindigkeit und Agilität stehen über formalen, trägen Prozessabläufen. Die etablierte Kultur gilt es hierfür nachhaltig zu verändern, um damit die Basis für den zwingend erforderlichen Aufbruch zu legen. Das Ziel ist zusammengefasst unter dem Begriff „Corporate Culture 4.0“.

Führung erfolgt nicht mehr top down in Abteilungsstrukturen, sondern in flachen Organisationen über Grenzen hinweg auf Ballhöhe als Coach. Ein schönes Leitbild in diesem Sinne ist sicher beispielsweise Jürgen Klopp, Fußballtrainer des FC Liverpool. Mit ausgestrahlter Energie, Motivation und Begeisterung für sein Team und die gemeinsame Aufgabe lebt er als Vorbild seine Vision vor. Er reißt seine Mitspieler auf diese Weise mit – und nicht mit hierarchischen Anweisungen. Rückschläge werden weggesteckt und mit Aufmunterungen und Anpassungen geht ein Ruck durch das Team und es wird gemeinsam gekämpft, einen etwaigen Rückstand aufzuholen. Das ist die Grundeinstellung und das Führungsverhalten, das von modernen Managern erwartet wird. Dann gelingt auch der glaubwürdige Umgang mit Termin- und Kostendruck. Natürlich sollen dabei traditionelle und bewährte Best Practices der Geschäftsführung nicht hinten runterfallen. Weiterhin gilt es, solide und effizient zu wirtschaften, Investitionen genau zu bewerten und Compliance-Regeln einzuhalten. Um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein, wird in Fachstudien gefordert, dass erfolgreiche Führungskräfte ambidextrous, d. h. beidhändig, agieren müssen. Hierunter wird im Zusammenhang mit Innovation und Transformation die Fähigkeit verstanden, neben dem Managen traditioneller Verbesserungsmaßnahmen in etablierten Geschäftsfeldern gleichzeitig neue disruptive Modelle zu entwickeln und voran zu treiben.

Strukturiertes kontinuierliches Change Management ist eine weitere zwingende Voraussetzung zur Umsetzung der erforderlichen Transformation. Hierbei gilt es zunächst, allen Führungskräften und Mitarbeitern die Notwendigkeit einer Veränderung auch anhand von Szenarien klar aufzuzeigen und die Motivation zum Wandel zu erzeugen. Dann ist ein Netzwerk aus Personen, Change Agents, aufzubauen, die die Kommunikation während des Veränderungsprozesses kontinuierlich aufrechterhalten. Als Kernbotschaft ist eine Vision zu entwickeln einhergehend mit einer nachvollziehbaren Strategie, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Zu Beginn sollten möglichst schnell Erfolge erzielt werden, um die Kommunikation damit zu verstärken und im nächsten Schritt mit neuen Ideen und ergänzenden Maßnahmen weitere Veränderungen anzugehen. Durch die kontinuierliche Kommunikation und auch die schnelle Beseitigung von Hindernissen ist sicherzustellen, dass die Veränderungsbereitschaft dauerhaft im Unternehmen verankert ist und der Wandel Bestandteil der Unternehmenskultur wird.

Fazit

Die Automobilindustrie muss sich vom fahrzeugorientierten hin zum mobilitätsorientierten Geschäftsmodell wandeln. Dazu kommen viele weitere Veränderungen wie beispielsweise neue Antriebsformen, veränderte Fertigungsverfahren und innovative Materialien hinzu. Die Adaption dieser massiven Veränderung fällt gerade den etablierten Unternehmen schwer. Da das bisherige Geschäftsmodell durchaus noch erfolgreich läuft, ist auch die Bereitschaft zur Transformation teilweise gering. Viele Neueinsteiger sehen diesen Umbruch als Chance, um mit innovativen Ansätzen Marktanteile in dieser traditionellen Industrie zu gewinnen. Chinesische Unternehmen beanspruchen die Führung bei Elektroantrieben und besonders auch beim autonomen Fahren und bestätigen diese Zielsetzung mit beeindruckenden Fortschritten und ersten Piloten. Technologiefirmen nutzen ihre IT-Erfahrung und die etablierten Plattformen und dringen in die neuen Daten- und KI-basierten Geschäftsfelder ein. Um diesen massiven Wettbewerb und diesen Tsunami an Veränderungen zu bestehen, müssen die etablierten Unternehmen mit Schnelligkeit, Agilität, Innovationsfreudigkeit und Risikobereitschaft vorangehen. Nur mit diesem Verhalten gelingt es den etablierten Herstellern, den Goliaths, gegen die neuen Herausforderer, die Davids, erfolgreich zu bestehen. Damit würden hoffentlich einige Prognosen nicht eintreffen, demzufolge die Hersteller wegen des Fehlens genau dieser Eigenschaften bei disruptiven Veränderungen keine Chance haben.


Prof. Dr.-Ing. Uwe Winkelhake ist Honorarprofessor der TU Braunschweig und selbständiger Berater im Schwerpunkt Digitale Transformation. Er war Vice President Automotive der IBM Deutschland GmbH und hat weit über 30 Jahre Berufserfahrung in der Digitalisierung der Automobilindustrie mit großen internationalen Transformationsprojekten.

Buchtitel:
Die digitale Transformation der Automobilindustrie
• Treiber • Roadmap • Praxis

Der Inhalt
Zielsetzung, Rahmen des Buches - Entwicklung der Informationstechnologie als Digitalisierungstreiber - „Digital Lifestyle“ zukünftiger Mitarbeiter und Kunden - Technologien für Digitalisierungslösungen - Vision digitalisierte Automobilindustrie 2030 - Roadmap einer nachhaltigen Digitalisierung - Unternehmenskultur und Organisation - Informationstechnologie als Enabler der Digitalisierung - Beispiele innovativer Digitalisierungsprojekte in der Automobilindustrie - Auto-Mobilität 2040


Der Artikel erschien im changement!-Magazin 01/21. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung des Inhalts auf der TEDIC Website.
Siehe auch Gratispaket: https://change.handelsblattgroup.com/changement-gratis-paket/